Wer Karin Keller-Sutter kennt, zweifelt keine Sekunde, dass sie bis am Ende alles versucht hat, um Ignazio Cassis umzustimmen. Sie verfasste sogar einen Mitbericht gegen das Vorhaben ihres FDP-Kollegen im Bundesrat. Dass es falsch sei, die neuen Verträge mit der EU bloss dem Volksmehr zu unterstellen, dem fakultativen Referendum. Und dass es insbesondere in der EU-skeptischen Zentral- und Ostschweiz als Trickserei verstanden werden könnte, die Kantone zu umdribbeln.
Keller-Sutter wollte ein obligatorisches Referendum. Dass nebst dem Volk also auch die Mehrheit der Stände zustimmen muss, um die Verträge in Kraft zu setzen.
Doch Ignazio Cassis liess sich nicht mehr beirren. Obwohl vermutlich niemand besser weiss, was es heisst, wenn einen der Bannstrahl der Bundespräsidentin trifft. Wie frostig war doch das Verhältnis zur St. Gallerin, nachdem sie nach ihrer Wahl im Dezember 2018 zunächst ins Justizdepartement musste, obwohl er das hätte verhindern können.
Jetzt, an diesem sonnigen Mittwoch im April 2025, fasste sich der Tessiner ein Herz – und setzte sich durch: Zusammen mit Beat Jans und Elisabeth Baume-Schneider von der SP sowie dem neuen Mitte-Bundesrat Martin Pfister gab seine Stimme den Ausschlag für das fakultative Referendum. Gegen Keller-Sutter und gegen die beiden SVP-Bundesräte Albert Rösti und Guy Parmelin – deren Partei ihn bei der Wahl in den Bundesrat 2017 und bei den Gesamterneuerungswahlen 2019 und 2023 stets treu unterstützte. Cassis hat am Mittwoch viele Freunde enttäuscht.
Der Entscheid für das fakultative Referendum ist wegweisend, obwohl ihn das Parlament noch umstossen kann. Denn er macht deutlich, welch grosse Bedeutung der Bundesrat den Verträgen beimisst. Das Risiko, dass sie am Ständemehr scheitern könnten, ist ihm offensichtlich zu gross. Vor den Medien erklärte Cassis: «Der Bundesrat ist überzeugt, dass die Fortsetzung des bilateralen Wegs eine strategische Notwendigkeit für die Schweiz darstellt.» Und nicht ohne Pathos: Die Bilateralen hätten sich bewährt, «im Dienste der Schweiz und ihrer Zukunft».
So viel Entschlossenheit von Cassis, das ist ungewohnt. Als er 2017 das Aussendepartement von seinem glücklosen Vorgänger, Didier Burkhalter, übernahm, kündigte er an, in der Europapolitik den Reset-Knopf zu drücken. An einer Medienkonferenz nach 100 Tagen im Amt stellte er seine Strategie mit bunten Styroporblöcken dar, die die bilateralen Verträge symbolisierten.
Sie fielen während der Vorführung zu Boden. Und es war in seiner Anfangszeit, als Cassis im Hinblick auf die Verhandlungen mit Brüssel sagte: «Wenn es klappt, dann klappt es. Wenn es nicht klappt, klappt es nicht.» Die wortgewordene Unverbindlichkeit. Der damalige SP-Präsident Christian Levrat schimpfte Cassis einen «Praktikanten».
Der Tessiner Bundesrat schickte alsdann mit Roberto Balzaretti einen Tessiner Top-Diplomaten auf die Reise nach Brüssel und an die Medienfront. Der Staatssekretär handelte den Rahmenvertrag aus und vertrat ihn in Interviews. Der Aussenminister hielt sich im Hintergrund, als beträfe ihn das Dossier nicht.
Ob Cassis am 23. November 2023 mit EU-Kommissar Johannes Hahn in einem Zürcher Hotel tatsächlich per Handschlag den Abschluss der Verhandlungen besiegelte, ist nicht bestätigt. Sicher ist: Letztlich klappte es nicht. Unter dem Druck der Bundesratsparteien versenkte die Regierung das Rahmenabkommen im Frühling 2021. Cassis liess seinen Vertrauten, Balzaretti, fallen.
Immerhin: Der Reset war vollbracht – und nach einiger Zeit erfolgte mit den Sondierungen unter Livia Leu und später dem Chefunterhändler Patric Franzen der Neustart, der schliesslich Ende 2024 zum erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen führte.
Seither wagt sich Cassis, der zuvor monatelang keine Interviews gegeben hatte, in die Offensive. «Der Platz der Schweiz ist im Herzen Europas. Das können wir nicht ändern», sagte er im März zu dieser Zeitung. Schon da sprach er mit Blick auf den russischen Angriffskrieg und die Ungewissheit in den USA von der «strategischen Notwendigkeit» der EU-Verträge für die Schweiz. Er ist offensichtlich überzeugt vom Verhandlungsergebnis, das etwa beim Lohnschutz oder dem Schutz der Schweizer Sozialwerke vor Missbrauch im Vergleich zum gescheiterten Rahmenabkommen klar besser ausfällt. Der Reset, so spät er kam, hat sich für Cassis gelohnt.
Kommt hinzu, dass es für den Aussenminister jetzt auch um sein Vermächtnis geht. Cassis wird aller Voraussicht nach Ende dieser Legislatur zurücktreten. Auf die Wahlhilfe der SVP in der Bundesversammlung ist er nicht mehr angewiesen. Er kann es sich leisten, voll auf die neuen Bilateralen zu setzen. Enttäuschte Freunde hin oder her.
Vielleicht kann er gar nicht anders. Denn ohne diese Verträge wird von seinem Wirken nicht viel bleiben: die Ukraine-Konferenz in Lugano im Juli 2022 und die Bürgenstock-Konferenz 2024, die freilich von Bundespräsidentin Viola Amherd angestossen worden war. Dazu die Mitgliedschaft der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat.
Der FDP-Bundesrat will mehr hinterlassen. Dafür riskiert er sogar den Bannstrahl von Kollegin Keller-Sutter.
Richtung und Schritte eingeschlagen.