Wie sind Sie auf die Idee für dieses Buch gekommen?
Iwan Weidmann: Ausschlaggebend waren die erbitterten Streitigkeiten während Corona, die ich in meinem Freundes- und Familienkreis mitbekommen habe. Mehrfach habe ich erlebt, wie langjährige Freundschaften zerbrachen, weil die zustimmende oder ablehnende Haltung gegenüber den staatlichen Schutzmassnahmen nicht geteilt wurde.
Wenn man also sein Ego aussen vor liesse, würde man sich trotz Corona-Differenzen verstehen, sagen Sie?
Absolut. Dass man sich über eine Meinungsverschiedenheit so aufregt, dass man alle vorhandenen Gemeinsamkeiten vergisst, ist doch absurd. Und die entsprechenden Diskussionen bringen nichts, weil man Menschen sowieso kaum ändern kann. Erst recht nicht, wenn jemand sagt: «Ich glaube nicht, dass das stimmt.» Bei Glauben sollte man aufhören zu diskutieren und stattdessen sagen: «Lass uns darin einig sein, dass wir uns nicht einig werden.»
Warum führen wir denn so oft unnötige Diskussionen?
Weil das Ego ständig will, dass wir recht behalten. Dass die anderen einsehen, dass unsere Meinung die einzig richtige ist. Nur geht das den anderen genauso. Solche Diskussionen sind nicht zu gewinnen. Sie führen nur zu sinnlosem Streit.
Wie findet man denn heraus, welche Diskussionen sich doch noch lohnen und nötig sind?
Viele Diskussionen werden nur begonnen, um den anderen die eigene Meinung aufzudrängen. Und die fühlen sich dadurch oft angegriffen. Einem Arbeitskollegen zum Beispiel zu sagen, was immer man von der SVP oder den Grünen hält, ist also nicht nötig, weil es gern zu Ärger führt. Aber die sachliche Argumentation zur Einführung eines vegetarischen Gerichts in der Kantine könnte sich lohnen.
Inwiefern haben Sie Ihre eigene Wahrnehmung mit der anderer abgeglichen? Mein Eindruck ist, dass viele kein so grosses Ego haben, wie Sie es beschreiben.
Das Ego ist wohl bei allen etwa gleich gross. Es zeigt sich nur nicht bei jeder und jedem aus dem gleichen Grund. Der eine ärgert sich zum Beispiel über Veganer, die andere über Fleischesser. Fast jede und jeder zählt sich auf unterschiedlichen Gebieten zu den Guten und will die vermeintlich Schlechten von ihrem falschen Handeln abbringen.
Andere allerdings leiden heute unter dem Impostor-Syndrom, dem Zweifel an der eigenen beruflichen Leistung. Wie geht das mit Ihrer Ego-Analyse zusammen?
Es ist ebenfalls das Ego, das ihnen einredet: Du kannst eigentlich nichts, du kriegst nichts auf die Reihe. Es geht dem Ego einzig darum, recht zu haben. Und dazu braucht es keine objektiven Fakten. Ihm reicht der Glaube. Und der ist, worüber wir uns oft ärgern, mit Fakten nicht zu widerlegen. Darum nützt es auch nichts, wenn jemand der Person sagt: «Du bist die beste Mitarbeiterin hier.» Traurig. Aber ein gutes Beispiel dafür, dass unser Ego es eben oft nicht gut mit uns meint. Ich will die Leute mit meinem Buch nicht belehren, sondern das Bewusstsein dafür schärfen, was das Ego mit uns macht. Manche werden bei meinen Beispielen denken: «Aha, das mache ich manchmal ja auch.»
Sich zum Beispiel über den lichthupenden Drängler auf der Autobahn aufregen.
Genau, wer kennt das nicht? Dabei könnte man ja einfach rechts rüber fahren und wieder seinen Frieden haben. Aber unser Ego sagt: Nein, ich bin im Recht, ich fahre 120 und lasse mich nicht bedrängen. Damit fordern wir das Ego des Dränglers erst recht heraus, ärgern uns noch mehr und provozieren vielleicht sogar einen Unfall.
Aber was ist mit der Sicherheit? Der Drängler gefährdet alle normal Fahrenden. Man kann sich auch deshalb enervieren.
Das stimmt. Darum lässt uns das Ego zum vermeintlichen Wohl der Allgemeinheit auch gern zum Hilfspolizisten werden. Aber vielleicht ist der Drängler ja auch nur ausnahmsweise einer. Sicher, er gefährdet andere Verkehrsteilnehmer. Aber vielleicht gibt es für sein Verhalten, das ich damit nicht rechtfertigen will, auch mildernde Umstände. Oder er ist schon den ganzen Tag genervt. Also eigentlich ein armer Kerl.
Sie plädieren also auch für mehr gegenseitiges Verständnis.
Ja, für etwas Wohlwollen gegenüber den anderen. Dass man sich bewusst ist, dass man immer alles vom eigenen Standpunkt aus sieht, und dieser nie derselbe ist, wie der einer anderen Person. Unsere Politik funktioniert ja auch nur, wenn versucht wird, Kompromisse zwischen gegensätzlichen Standpunkten zu finden. Zum Beispiel auf den Zürcher Strassen, da kämpfen Velo- und Autofahrer um Platz. Da wäre es nötig, auch mal von der eigenen Ideologie abzurücken und einzusehen: Ja, hier ist es zu eng für Velos und Autos, da macht auch eine Velospur keinen Sinn. Dafür errichtet man zwei Parallelstrassen weiter, wo kaum Autos fahren, einen Velo-Highway. Es gäbe für fast alles eine Lösung, mit der beide Seiten leben könnten. Nur lässt die das Ego eben oft nicht zu.
Haben die sozialen und Online-Medien den Krieg der Egos nicht erst recht angefacht?
Dass das Ego recht haben will, war schon vor dem Internetzeitalter so. Politiker und Prominente haben die Hassbriefe damals einfach im Briefkasten oder der Parteizentrale erhalten. Der Unterschied zu heute besteht darin, dass der Hass nun für alle sichtbar ist. Dafür werden die Angegriffenen im Internet auch verteidigt. Absender von Hassbotschaften werden auf Facebook oder Twitter oft genauso erbittert gehasst.
Eine Erklärung für Ego-Kämpfe ist der Druck, der auf vielen lastet. Sollte man also nicht einfach den Druck rausnehmen? Hätten wir dann nicht automatisch weniger unnötige Kämpfe?
Ein Leben ohne Druck würde sicher zu mehr Gelassenheit führen. Aber wie soll das gehen? Wir alle sind ständig unter irgendwelchem Druck, von dem wir uns nicht befreien können. Vom Termindruck im Büro bis zum finanziellen Druck. Dazu noch der Druck, unter den das Ego uns setzt, weil es will, dass die Welt so ist, wie wir sie uns als einzig richtig vorstellen. Und darüber geraten wir ständig mit anderen in Konflikt.
Wir leben in einer Therapiegesellschaft. Hat man grosse Probleme mit seinem Ego, müsste man die vielleicht mit einer Therapeutin anschauen.
Ich bin überzeugt, dass sich das auch ohne Therapie ändern lässt. Man braucht sich bloss zu fragen, ob die eigene Empörung gerade verhältnismässig ist. Ist den meisten Fällen ist sie es nicht. Sondern nur die Wut darüber, dass die anderen sich nicht so verhalten, wie man es für einzig richtig hält.
Sie sagen auch, das Ego steht dem Erfolg oft im Weg. Mein Eindruck ist, dass ein grosses Ego oft Voraussetzung für den Erfolg ist. Siehe zum Beispiel Elon Musk.
Das nimmt man so wahr, das stimmt. Aber viel öfter ist das Ego kein Helfer, sondern ein Verhinderer.
Inwiefern?
Wenn es einen eben zum Beispiel dazu drängt, zu allem und jedem seine Meinung zu sagen. Andere ständig mit Ansichten zu belästigen, die mit dem Verhältnis, in dem man zueinander steht, oder mit der Aufgabe, die man zu erledigen hat, in keinem Zusammenhang stehen. Bei der Arbeit kommt es nämlich nicht nur darauf an, gute Kenntnisse zu haben, sondern auch, sich miteinander zu vertragen, ins Team zu passen.
Wenn man sich derart zurücknimmt mit der eigenen Meinung, leidet dann nicht irgendwann die Authentizität darunter?
Nein. Es ist nicht authentisch, wenn man anderen ständig ungefragt erzählt, was man von diesem oder jenem hält. Auch wenn das Ego das nicht wahrhaben will, die meisten wollen es auch nicht hören. Denn nicht selten haben sie eine andere Meinung. Und schon finden wir uns in einer erbitterten Diskussion, die unnötigerweise unser ansonsten vielleicht gutes Verhältnis belastet. (aargauerzeitung.ch)