Die Pandemie ist vorbei und doch nicht. Die Schäden, die das Virus angerichtet hat, wirken darüber hinaus. Das gilt nebst den Löchern im Bundesbudget, den Verwerfungen am Arbeitsmarkt und den Long-Covid-Erkrankungen auch für die Volksseele.
Die psychische Belastung ist verglichen mit der Vor-Covid-Ära nach wie vor erhöht. Zu diesem Schluss kommt das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) in einer am Dienstag publizierten Studie. 5502 in der Schweiz lebende Personen ab 15 Jahren wurden dafür befragt.
Dass sich die Gesellschaft weiterhin in einer «Anpassungsphase aus den Pandemiebeschränkungen heraus» befindet, bestätigt Stefan Vetter, Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Er betont auch, dass es neue, zusätzliche Belastungen gibt wie den Krieg in Europa und die Inflation. «Neuste Untersuchungen deuten darauf hin, dass viele Menschen eine anhaltende, individuelle Krise durchleben.»
Die Obsan-Studie hält fest: Jede achte Person (13.5 Prozent) hat so starke psychische Symptome, dass sie in ihrem Alltag eingeschränkt ist oder Suizidgedanken hat.
Besonders betroffen: die 15- bis 24-Jährigen. Im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt schneiden sie wie bereits vor der Pandemie schlechter ab, bei den Indikatoren der positiven psychischen Gesundheit wie bei fast allen erhobenen Krankheitssymptomen. So haben zum Beispiel 17 Prozent dieser Gruppe schwere Angstsymptome, 9 Prozent sind es in der Gesamtbevölkerung.
Entsprechend hätten die Anfragen für Behandlungen an der PUK am stärksten im Bereich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zugenommen, sagt Vetter. Als aktuell grösstes Problem nennt er den Umstand, dass psychische Erkrankungen weiterhin unterversorgt seien. Das sei multifaktoriell bedingt.
Vetter nennt als Gründe die «fortbestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, den zunehmenden Fachkräftemangel, die komplexen Zugangswege ins Versorgungssystem, die ungenügend ausgebauten ambulanten und teilstationären Behandlungsangebote und den hohen Abstimmungsbedarf zwischen den ambulanten und stationären Tarifsystemen».
Die Studie bestätigt erneut einen Gender-Gap: 36 Prozent der befragten jungen Frauen geben «schwere Symptomausprägungen» an. Rund 30 Prozent leiden unter mittleren bis schweren Depressionssymptomen, 29 Prozent unter einer sozialen Phobie. Bei den jungen Männern sind die Zahlen zwar weniger hoch, aber ebenfalls über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Etwa geben 15 Prozent der jungen Männer mittelschwere bis schwere Depressionssymptome an (12 Prozent in der Gesamtbevölkerung), und 9 Prozent von ihnen hatten in den letzten 12 Monaten Suizidgedanken (5 Prozent in der Gesamtbevölkerung).
Gleichzeitig suchen mit 85 Prozent verhältnismässig viele betroffene junge Frauen bei psychischen Problemen Hilfe. Diese wird in der Studie weit gefasst und beinhaltet alles vom Drüberreden über die Lektüre von Büchern oder Blogs bis hin zur therapeutischen Behandlung. Am häufigsten ist laut der Studie der Fall, dass mit dem sozialen Umfeld über das psychische Problem gesprochen wird.
Bei den jungen Männern suchen 69 Prozent Unterstützung. Rund 375 000 der betroffenen jungen Menschen holen sich keine Hilfe.
Ein Gefälle gibt es auch geografisch. So kommt die Studie zum Schluss, dass Angststörungen in den französischsprachigen (26 Prozent, insbesondere Genferseeregion) und in den italienischsprachigen Gebieten (33 Prozent) viel ausgeprägter sind als in der Deutschschweiz (12 Prozent). Laut den Autoren ist es kein Zufallsergebnis, zumal die Gesundheitsdienstleister bei der Abgabe von Benzodiazepinen, wie sie zur Behandlung von Angstzuständen eingesetzt werden, ein ähnliches regionales Muster erkennen. Gründe nennt die Studie nicht.
Auch Vetter geht davon aus, dass der regionale Unterschied nicht zufällig ist, kann ihn allerdings nicht erklären. Die Verschreibung von Benzodiazepinen sei aber sicher Ausdruck der Häufigkeit von Angststörungen. Der Psychiater betont, dass Benzodiazepine nur kurzfristig zu Beginn der Behandlung eingesetzt werden sollten.
Positiv fällt auf, dass die psychische Belastung mit dem Alter abnimmt. Die 65-Jährigen und Älteren sind weniger betroffen. Allerdings gehen sie psychische Probleme, wenn sie auftreten, auch weniger aktiv an. Bei den älteren Männern sucht jeder zweite, bei den Frauen jede dritte Betroffene keine Hilfe.
Insgesamt lassen sich heute mit knapp 10 Prozent mehr Leute wegen psychischer Probleme behandeln als 2017 (6 Prozent). Unklar sind die Gründe dafür. Allenfalls ist der Anstieg auch darauf zurückzuführen, dass man heute eher auf das Thema sensibilisiert ist und sich früher Hilfe holt. (aargauerzeitung.ch)