Herr Binswanger, 36 Prozent der Befragten der CSS-Gesundheitsstudie geben an, sich in den letzten zwölf Monaten oft kränklich oder gesundheitlich angeschlagen gefühlt zu haben. Wie stark hängt die Gesundheit mit dem Glücklichsein zusammen?
Mathias Binswanger: Man muss zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit unterscheiden. Aber zunächst einmal: Wenn man von aussen in die Schweiz kommt, etwa als Migrantin oder Migrant, erscheint dieses Unwohlsein völlig absurd. Man lebt fast nirgends besser als in der Schweiz. Und dann schaut man sich diese Leute an und sie fühlen sich unwohl und krank. Das erscheint paradox.
Wie erklären Sie sich, dass trotzdem viele Menschen angeben, dass sie sich gestresst und übermüdet fühlen?
Diese Menschen müssen oft Tätigkeiten nachgehen, die sie nicht gerne machen und die für sie nicht sinnhaft sind. So ist man schnell erschöpft oder gestresst. Oft verdienen diese Menschen zwar gut – aber Materielles haben viele Menschen in der Schweiz schon im Überfluss. Das heisst, dass dies für die meisten Menschen nicht mehr der Engpass zum Glück ist.
Die Schweiz landet beim diesjährigen «World Happiness Report», herausgegeben von der UNO, auf Platz acht. Gibt es eine Diskrepanz zwischen den zwei Studien?
Man muss solche Umfragen wie die der CSS relativieren. Gemäss dem «Happiness Report» gehört die Schweiz immer zu einem der glücklichsten Länder der Welt. Aber wenn man am Morgen am Zürcher Hauptbahnhof die Menschen beobachtet, hat man nicht das Gefühl, dass wir eine speziell glückliche Nation sind. Wir betonen hier in der Schweiz gerne das, was gerade nicht so gut läuft, und sehen gar nicht mehr, dass wir in einer privilegierten Situation sind.
Trotzdem sind wir laut Report glücklich. Werden dort einfach die richtigen Fragen gestellt?
Genau, es kommt auf die Fragen an. Bei Fragen wie «Leiden Sie unter Stress und sind übermüdet?» denken die Leute, ja, eigentlich fühle ich mich oft gestresst. Wenn man fragt «Sind Sie glücklich?» dann denkt man auch oft schnell, ja, eigentlich bin ich glücklich. Der Kontext ist wichtig.
Ist Glück überhaupt messbar?
Nicht exakt.
Sie haben gesagt, dass oft die Jobs die Menschen unglücklich machen – trotz gutem Lohn. Macht Geld also nicht glücklich?
Das muss man differenziert beantworten. Wenn ich gar kein Geld habe, macht mich Geld sehr glücklich. Aber wenn ich schon viel Geld habe, trägt mehr Geld nicht mehr viel zu meinem Glück bei. In entwickelten Ländern werden Menschen im Durchschnitt mit steigendem Einkommen nicht mehr glücklicher. Wenn man aber zwischen Armen und Reichen unterscheidet, sind die Reichen immer glücklicher als die Armen, denn die Menschen vergleichen sich ständig miteinander.
Und wie verändert sich das mit dem steigenden Wohlstand in der Schweiz?
Das Land als Ganzes wird zwar immer reicher, aber die am unteren Rand vergleichen sich dann mit den neuen Standards. Sie bleiben deshalb nach wie vor unzufrieden. Das Ganze ist ein Nullsummenspiel, welches in eine höhere Ebene geht, weil nicht alle immer mehr haben können als die anderen.
104'000 Franken braucht man in der Schweiz, um glücklich zu sein, besagt eine neue Studie. 2022 verdienten 29 Prozent der Vollzeit erwerbstätigen Männer mehr als 104'000 Franken, bei den Frauen waren es 17 Prozent. Sind die Frauen unglücklicher als die Männer?
Nein. Es gibt in keinem Land signifikante Unterschiede zwischen Mann und Frau, auch in der Schweiz nicht.
Und zwischen den Generationen?
Da gibt es Unterschiede: die sogenannte U-Kurve. Menschen sind relativ glücklich, wenn sie jung sind. In der Mitte ihres Lebens kommen sie in ein Wellental und ab 50 Jahren werden sie wieder glücklicher und zufriedener. Insbesondere nach der Pensionierung.
Wann genau ist die «unglückliche» Lebenszeit?
Zwischen 20 und 50 Jahren, je nach Land etwas verschieden. In dieser Zeit muss man alles Mögliche, aber man hat wenig Zeit für Sachen, die man gerne macht. Heute vergleicht man sich auch ständig mit den anderen, wenn man etwas macht, muss man schauen, dass man zu den Besten gehört. Das schafft Stress. Dann kommt noch die Doppelbelastung von Job und Familie hinzu. Doch dieser Stress geht dann ab 50 zurück.
Die Jungen von heute machen aber eher eine Psychotherapie und suchen sich professionelle Hilfe. Hat das keinen Einfluss darauf, dass sie sich besser fühlen?
Die Menschen sind zunehmend weniger resilient. Früher hat man sich noch gesagt, dass man sich zusammenreissen sollte und dann wird es auch wieder besser. Man boxte sich selbst durch. Heute sucht man sich schneller Hilfe.
Weshalb geht die Resilienz zurück?
Weil man als Kind schon mit Hilfsangeboten konfrontiert ist. Wenn man nicht so gut ist in der Schule, erhält man spezielle Betreuung, die Eltern kümmern sich viel mehr um jedes Problem. Man ist schon früh daran gewöhnt, dass es für alles einen Spezialisten gibt.
Hat nicht der enorme Leistungsdruck die Resilienz gemindert?
Das ist die Schizophrenie. Auf der einen Seite hat man immer mehr Angebote für die Kinder und hilft ihnen, auf der anderen Seite nehmen die Leistungsanforderungen zu. Das schafft eine Diskrepanz, die Menschen Mühe bereitet.
Nun haben wir lange über das Unglücklichsein gesprochen. Was macht glücklich?
Verschiedene Dinge: Arbeit, die einen erfüllt und Sinn gibt, ein funktionierendes Sozialleben, Freundschaften pflegen. Die kleinen Glücksmomente schätzen, wie beispielsweise den Kaffee am Morgen. Grosse Glücksmomente sind selten im Leben, auf die kann man nicht bauen. Man muss herausfinden, was man gerne macht, einen Sinn für sein Leben finden.
Was steht den Menschen im Weg bei dieser Sinnfindung?
Ein Problem ist, dass wir uns heute ständig ablenken, beispielsweise auf Social Media. So setzt man sich nicht mehr mit sich selbst auseinander.
Macht Social Media unglücklich?
Nein, generell kann man das so nicht sagen. Aber es gibt einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die gefährdet sind. Männer werden zu Nerds und spielen nur noch Computerspiele und Frauen vergleichen sich ständig mit anderen und verlieren sich selbst zwischen den Influencerinnen.
Letzte Frage: Sollte man anstreben, glücklich zu sein oder zufrieden zu sein?
Zufrieden. Aber eigentlich sollte man weder das eine noch das andere verbissen anstreben. Ich mache Dinge nicht, damit ich glücklich werde. Ich spiele nicht Musik, damit ich glücklich werde, sondern ich spiele Musik, weil ich das gerne mache. Das Glück stellt sich als Nebeneffekt ein.
Selbst in der Freizeit: Am Wochenende sieht man zwar volle Städte, aber nicht wirklich Entspannung bei den meisten Mitmenschen. Wir müssen wieder lernen zu leben, das Leben geniessen und zwar 24/7 und nicht nur in den 5 Wochen Ferien.